Skulpturale Fassaden
16. Juni 2012 von H. Wittmann
Als Gastautor auf diesem Blog erzählt Peter Czerwinski mit 20 Fotos von seinen Spaziergängen durch Stuttgart und den wunderbaren Fassaden in dieser Stadt.
Stuttgart als ‘Vorort der Moderne’ ist ein Allgemeinplatz: wer kennt nicht die Weißenhofsiedlung!
Im Hintergrund bleibt dabei, daß Stuttgart auch – oder sogar ‘eigentlich’ – eine Stadt des späten 19. Jahrhunderts ist: ihr Bestand an Häusern aus dieser Zeit macht staunen. Ganze Straßenzüge, ganze Stadtteile sind nahezu vollständig erhalten. Prächtige Fassaden reihen sich lückenlos etwa in der Reinsburgstraße, der Augustenstraße, der Gutenbergstraße, der Olgastraße, der Alexanderstraße …. (Am schönsten aber sind die Häuser in der Mörikestraße!).
Doch für solche – wohl singuläre – Skulpturalität der Fassaden des 19. Jahrhundert reichen die gängigen ‘Erklärungen’ nicht hin: der Bürger habe geprotzt, um zu verdecken, daß er nichts war und nichts hatte außer Geld, daß er über keine eigene Lebensform verfügte. Etwa wurden die ‘eigentlich’ großzügigen Räume mit Möbeln und irgendwelchem Plunder zugestopft (‘Makartstil’), und eben solcher ‘horror vacui’, solche Angst vor der Leere habe auch die überbordenden Fassaden hervorgebracht.
Für diese Erklärung scheint zu sprechen, daß die Skulpturalität der Häuser des späten 19. Jahrhunderts ausnahmslos Nachahmung war, zu keinem eigenen Stil fand. Sie kopierte die Antike, die Romanik, die Gotik, die Renaissance, den Barock, selbst noch den Klassizismus, vereinte nicht selten an einem Bau mehrere dieser Anleihen:
“Im Skulpturenprogramm der Fassade trat das Bildungswissen des Bürgers von Innen nach Außen. Was die Fürsten im Park aufstellten, antike Götter und Heroen, stellten die Bürger der Straße zur Schau – ein Beleg dafür, dass auf der Straße der Großstadt das Schauspiel des Bürgertums abläuft.”
(Hannelore Schlaffer).
Doch nicht die Angst vor der Leere wehrten die Ornamente mit ihrem Willen zu einer – contradictio in adjecto – ‘überbordenden Ordnung’ ab, sondern das Gegenteil, die Angst vor der Masse: entfernt man die Ornamente (das ist bei Renovierungen in den armen 50er Jahren des 20. Jahrhunderts nicht selten geschehen), wird aus den würdevollen Bauten eine Fabrik- und Kasernenarchitektur wie in den Randzonen der Städte. (Tatsächlich sind die meisten Bauten des späten 19. Jahrhunderts Mietshäuser.) Mit dem Schmuck der Fassaden “wird eine Unterscheidung zwischen Industrie [aus der der Reichtum des Bürgers kommt] und Privatheit signalisiert. Die Wirtschaft hat einem Leben zu dienen, das mehr ist als nur Warenproduktion, nur Zweck und Mechanik. Im Ornament stellt sich das Surplus zur Schau. Das ist nicht einfach geprotzt, das ist der Versuch, mit einer ‘Belle Epoque’ eine scheinbar noch massive Sinnlichkeit vor der Ware, der universalen Grundlage bürgerlicher Gesellschaften, und vor ihrer endgültig sekundären, scheinhaften Sinnlichkeit, ihrem Talmi zu retten.”.
Doch die Abwehr der Masse verwickelt sich in einen Widerspruch, denn die Gründerzeitbauten sind keine einzelnen Paläste mehr:
“Fassade ist ein doppeldeutiges Wort, meint Schein so gut wie repräsentatives Ansehen. Aber um Repräsentation kann es nicht mehr gehen, wenn so viele Häuser Reichtum zeigen. Was wir nach den Zerstörungen der beiden Kriege andächtig meinen bewahren zu müssen, weil es nur noch Reste davon gibt, das war in den Städten straßenzügeweise vorhanden. Wer käme auf die Idee, die Mietpaläste in Paris zu photografieren, sieht doch – mehr oder weniger – einer wie der andere aus.”
Die Bilder sollen keine Dokumentation sein (deshalb wird auf die genaue Bezeichnung der Häuser verzichtet), sondern einen Stil demonstrieren, die besondere ‘Skulpturalität’ der Fassaden des späten 19. Jahrhunderts.