Die Wutbürger und die Macht der Medien
Thymian Bussemer, Die erregte Republik
25. November 2011 von H. Wittmann
Nach dem > Lesebericht zu diesem Buch auf dem > Blog von Klett-Cotta bietet es sich an, auch auf diesem Blog das Buch von Thymian Bussemer, > Die erregte Republik mit der Banderole “Die Wutbürger und die Macht der Medien” vorzustellen, weil es prima zur aktuellen politischen Situation in Baden-Württemberg passt und dafür nicht nur einen theoretischen Hintergrund, sondern auch eine ganz praktische Analyse der Beziehungen zwischen Politik, Medien und Bürger liefert, die nicht nur für dieses Bundesland, sondern auch für die Bundesrepublik gilt. Bussemer zeigt mit seiner Untersuchung die heutigen Schwächen der repräsentativen Demokratie auf, womit er zugleich eine Perspektive auf bessere Zeiten öffnet. Nach der Volksabstimmung in Baden-Württemberg können sich die streitenden Parteien etwas zurücklehnen und darüber nachdenken, was auf beiden Seiten nicht optimal gelaufen ist.
“Ja, für den modernen Verkehr”, “Park oder Gleise, stimmen Sie mit Nein,” für Stuttgart 21 stimmen, ja ankreuzen, gegen Stuttgart 21 stimmen, nein ankreuzen… Dieses Durcheinander auf den Plakaten zeigt wie im Dialog zwischen der Politik, den Medien und den Bürgern die Diskussion um den neuen Stuttgarter Bahnhof von keiner Seite mehr beherrscht wird.
In Baden-Württemberg wird mit der Volksbefragung am 27. November über ein im Landtag gescheitertes Ausstiegsgesetz abgestimmt. Wird es von einem Drittel der wahlberechtigten Landesbürgerinnen und Landesbürger angenommen, ist die Ausstiegsvorlage Gesetz. Wird dieses > Quroum nicht erreicht, wird der Bahnhof unter die Erde gelegt. Auch wenn die Befürworter das Quorum nicht erreichen, gilt ihr Votum. Es geht nicht um die Befürwortung, es geht nur darum, ob das Ausstiegsgesetz angenommen oder abgelehnt wird, was natürlich auf die Frage hinausläuft, soll oder soll nicht gebaut werden? Der Bürger wird aber nicht direkt gefragt, ob er die Tieferlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs in städtebaulicher Hinsicht für erforderlich hält, sondern der größte Teil der Diskussion dreht sich um das Plebiszit mit seinem verdrehten ja und nein und eventuellen Ausstiegskosten. Die Initiatoren müssen erklären, wieso die Befürworter mit Nein stimmen müssen (sie stimmen gegen die Vorlage des Ausstiegsgesetzes), und die Gegner werben für Ja-Stimmen zugunsten des modernen Verkehrs. Vor hohen Kosten beim Ausstieg wird gewarnt. Die Befürworter rechnen den Gegnern verlorene Milliardenkosten vor, wenn das Projekt scheitern sollte, die Gegner kalkulieren anders und finden nur wenige hundert Millionen, die der Abbruch von S21 kosten würde.
Was bleibt ist ein Schaden für die repräsentative Demokratie, den Bussemer zur Hauptthese seines Buches macht. “Machtverlust der Politik” (S. 20) und “eine tiefe Entfremdung zwischen Wählern und Politik” (S. 21) sind die Stichwörter seines Befunds. “Die Politik” hat es nicht geschafft, den Sinn von Stuttgart 21, im Folgenden kurz S21, zu vermitteln. Andreas Zielcke hat schon am 19.10.2010 unter der Überschrift > Der unheilbare Mangel in der Süddeutschen Zeitung die Behauptung, die Bürger seien an allen Planungsschriften von S21 beteiligt gewesen, als schlichtweg falsch zurückgewiesen. Die Kosten spielen in der Auseinandersetzung um S21 eine große Rolle. Die Bahn schwört immer wieder, die Kosten würden eingehalten, was kaum jemand glauben muss. Jedes Großprojekt (> Lesebericht: Wolfgang Schömel, Die große Verschwendung, und > Nachgefragt) nicht nur die Elbphilharmonie in Hamburg wird im Verlauf seiner Baugeschichte grundsätzlich teurer werden. Das ist völlig normal und niemandem vorzuwerfen, jeder Häuslebauer kennt das. Die Frage ist nur, warum die Bahn sich so unbedingt sicher sein will, dass das Projekt bis 2020 im geplanten Kostenrahmen bleiben wird. Das wird eine Premiere sein und spricht für die bisherige gute Planung.
Die Geschichte von S21, ist für Bussemer ein Beispiel für die Postdemokratie: “Jahrelang,” so Bussemer, “wurde das Projekt von Kommissionen, Kommunalregierungen und Parlamentsausschüssen vorangetrieben, doch zu breiterer öffentlicher Wahrnehmung fand es erst mit dem ersten Spatenstich im Schlossgarten. Die Welle der Wut und Ablehnung kam zu spät, um die Planung noch ohne größere Verwerfungen für das einmal Beschlossene zu beeinflussen – einen sechswöchigen Baustopp lässt sich die Deutsche Bahn mittlerweile mit fünfzig Millionen Euro entschädigen -, und so kam es schließlich zur Explosion. Dies zeigt: Die Öffentlichkeit erträgt Verzerrungen und Verkürzungen, ohne vollkommen funktionslos für die Demokratie zu werden – eine totale Entkoppelung von dem, was in der Politik geplant und gedacht wird, übersteht sie dagegen nicht.” (S. 214 f.) Es bleibt also ein Quäntchen Hoffnung, die Bussemer am Rede seines Buches wieder aufgreifen wird. Der Weg zu diesem Referendum und sein Folgen werfen kein gutes Licht auf den Zustand der Demokratie und auf das Verhältnis der Medien zur Politik, oder auf das Verhältnis der Bürger zur Politik. Bussemer konstatiert, der Ruf nach mehr direkter Demokratie werde lauter. Möglicherweise könne das Plebiszit über den Stuttgarter Bahnhofsbau “für die politische Klasse Entlastung” bieten: “Politiker könnten sich durch die Delegation strittiger Entscheidungen an das Volk im Rahmen fakultativer Referenden aus der Verantwortung stehlen. Das wäre ein weiterer Schritt zum Abtritt der Politik.” (S. 215) Damit fasst Bussemer den gesamten Tenor seines Buches zusammen, in dem die Kanzlerin nur sechs oder sieben Mal eher nur am Rande erwähnt wird. Ist ihr Einfluss auf die Medien nicht so groß? Oder wird ihr wöchentlicher Videofilm nicht so häufig gesehen? Gerhard Schröder und Joschka Fischer erhalten jeweils ein ganzes Kapitel.
Die “Postdemokratie” (S.22-25) ist Bussemer ein Dorn im Auge. Er zeichnet das Bild einer “völlig ermatteten demokratischen Öffentlichkeit”, die den “rasant ausgeweiteteten Zugang zu Wissen und Informationen” (S. 23) nicht mehr beherrschen kann. Ich hätte hier “Wissen” weggelassen, weil die von Bussemer kritisierte Flut der Infos eben nur wenig oder gar kein Wissen vermittelt. Bussemer konstatiert als Folge eine “Krise der Öffentlichkeit” und eine “wachsende Distanz von Politikern und Bürgern” zusammen mit den Medien als “immer mächtigeren Einflussagenten.” (S. 24) das passt auch dazu, wie im Bundestag die eigentliche Parlamentsarbeit immer mehr in die Ausschüsse und in die Parteien verlagert wird, und der Bürger sich wundert, warum die Abgeordneten immer vor fast leeren Reihen sprechen. Die Umgehung des Bundestages wird immer mehr zur Regel. Man darf sich dann nicht wundern, wenn die repräsentative Demokratie nicht ganz unbeschadet bleibt.
“Die Bürger proben den Aufstand” lautet die Überschrift des 2. Kapitels. “Politik im Sinkflug” (S. 28) und “die nachlassenden Bindungskräfte von Großorganisationen” sind hier die Stichwörter. Als Beispiel wird Ministerpräsident Mappus genannt, der jede Kritik an S21 ablehnte und erst nach dem missglückten Einsatz der Polizei im Schlossgarten seine Haltung – viel zu spät – revidieren wollte. (vgl. S. 32)
Aber Bussemer sieht gute Chancen für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen der Politik, den Medien und den Bürgern. Unter der Überschrift “Das Politische und das Mediale im 21. Jahrhundert” (S. 236-239) erklärt er, dass trotz aller Abnutzung “das Poltische” da sei. Es müsse nur unter “einer dicken Schicht unnützer Ablagerungen hervorgeholt werden.” (S. 237) Diese Ablagerungen hat er vorher auf über 200 Seiten detail- und kenntnisreich beschrieben. In diesem Sinne gibt sein Buch Befürwortern und Gegnern von S21 zu verstehen, was alles falsch gelaufen ist. Wenn die Medien wieder richtig recherchieren und sich nicht nur auf Pressemitteilungen verlassen, also wenn sie wieder ihre Unabhängigkeit einnehmen und dafür sorgen, dass ihre Informationen zu begründetem Wissen werden können, dann ist die Besserung auch für die repräsentative Demokratie in Sicht.
Thymian Bussemer
> Die erregte Republik
Stuttgart: > Klett-Cotta, 1. Aufl. 2011, 253 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-94620-8
Sabine Pamperrien > Wutbürger, politische Kultur und die Medien
Zwei Bücher über die repräsentative Demokratie in Deutschland
Dutschlandfunk, 21.11.2011, 19.15 Uhr